Lesung Jaroslav Rudiš

Jaroslav Rudiš: „Weihnachten in Prag“ in der Stadtbücherei Augsburg am 06.12.2023

Jaroslav Rudiš, geb. 1972 in Turnov im Böhmischen Paradies, gehört zu den renommiertesten tschechischen Schriftsteller*innen überhaupt. Bereits 2007 wurde er zu den 30 wichtigsten Persönlichkeiten Tschechiens gewählt. In Berlin entstand sein Erstlingsroman „Der Himmel unter Berlin“ (Nebe pod Berlínem, 2002). Für dieses Buch erhielt Rudiš im Jahre 2002 den Jiří-Orten-Preis.

Der wegen seiner Kurzsichtigkeit „gescheiterte Eisenbahner“ (Selbstbezeichnung) hat sein natürliches Habitat in Zügen und Bahnhöfen Europas, schreibt dort und sammelt Geschichten. Der Roman „Winterbergs letzte Reise“ (2019) und die „Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen“ (2021), sind auf Deutsch verfasst. Für seinen Beitrag zur Verständigung von Tschechen und Deutschen wurde der Autor von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. Auch in seiner jüngsten Erzählung, „Weihnachten in Prag“, spielt der Hauptbahnhof eine zentrale Rolle. Jaroslav Rudiš zieht in seiner Erzählung an Heiligabend durch die Metropole an der Moldau. Er erzählt von dem Fluss und den vielen alten Brücken und vom Leben im Schatten des Hradschins, der größten Burganlage der Welt. Es schneit, der Wind ist eisig kalt, die Straßen melancholisch leergefegt. Und doch sind sie voll von den alten und neuen Geschichten und Begegnungen. Immer wieder kehrt Rudiš in Wirtshäuser ein, deren Namen sich nach einem Rundgang in einem Zoo anhören: „Zum Schwarzen Ochsen“, „Zum Nilpferd“, „Zu Zwei Katzen“, „Zum Hirschen“ und „Zum Goldenen Tiger“. Hier trifft er seine Freunde. Leicht berauscht geht er weiter und begegnet auch denen, die schon von uns gegangen sind. Darunter den literarischen Säulenheiligen Kafka, Hašek und Hrabal. Schließlich stößt er auf einen einsamen Mann, der im Lokal „Zum Ausgeschossenen Auge“ mit einem Karpfen im großen Gurkenglas auf das Weihnachtswunder wartet. Auf seine Frau und auf das Christkind mit den Geschenken. Bei seinem Weihnachtsspaziergang wird Rudiš von seinem besten Freund Jaromír 99 begleitet, der diese magische und auch tragikomische Wanderung durch das verschneite Prag illustriert hat. Und wo gibt‘s die Geschenke? Richtig: Am Hauptbahnhof…

Dass Witze über die Deutsche Bahn durchaus opportun sind, weiß Rudiš: „Ich habe nur fünf Minuten Verspätung gehabt.“ Das Publikum, bestehend aus vielen Mitgliedern der Eisenbahnfamilie, klatscht begeistert Beifall. Im Grunde war der Abend im voll belegten Vortragssaal der Stadtbücherei ein Heimspiel des Entertainers, der von einer Anekdote zur anderen schweifte und das Publikum mit seinem lockeren Erzählstil und wohlgesetzten Pointen zum Lachen brachte, eher so etwas wie Standup-Comedy.

Yvonne Schlosser10. Dezember 2023